Ich kam gegen 20 Uhr am Berliner Bahnhof an und musste in weniger als 20 Minuten den ICE-Zug nach Hamburg besteigen. Ich zögerte, ob ich mir etwas zu essen kaufen sollte oder nicht. Schliesslich beschloss ich, dass ich keine Zeit habe und früher in den Zug steige. Ich erreichte den Wagen Nummer 7 und fand nach ein paar Minuten meinen Sitzplatz. Mein Platz war einer von vier Sitzen, die sich paarweise gegenüberstanden und durch einen Tisch voneinander getrennt waren. Gleichzeitig bemerkte ich eine ältere Frau mit blauen Augen und blondem Haar, die an meinem Platz sass. Ich sagte mir, dass diese Europäerin nicht auf die Schrift auf dem Sitz achtete, und setzte sich einfach auf meinen Platz. Zuerst dachte ich daran, mir einen anderen Platz zu suchen, aber wegen meiner Müdigkeit änderte ich meine Meinung und bat sie respektvoll, aufzustehen. In meinem Herzen war ich ein wenig glücklich, denn ich war schon mehrmals von meinem Sitzplatz gehoben wurden, und nun wollte ich mich dafür rächen.
Die verlegene Frau stand schnell auf und liess mich auf meinem Platz sitzen. Ich setzte mich hin und die Frau packte ihre Sachen zusammen. Dann bemerkte ich ihre Kleidung. Alles, was vorher geschah, ging so schnell, dass ich ausser ihrem Gesicht nichts mehr wahrnahm. Sie trug ein kleines geblümtes Tuch wie unsere traditionellen Schals auf dem Kopf und trug einen zugeknöpften Strickpullover über ihrem hellen Hemd. Aber was mir am meisten auffiel, war der dunkelblaue Rock mit den rosa Blumen. Unbewusst erinnerte ich mich an meine Grossmutter in unserem Dorf in Nordafghanistan. Auch sie liebte Blumen, und die meisten ihrer Kleider waren immer voller bunter Blumen, wie die Steppe von Mazar-i Sharif im Frühling.
Nach ein paar Sekunden setzte sich die Frau auf den Sitz vor mir und sagte beschämt: „Es tut mir leid. Ich komme gerade aus der Ukraine.“ Sie sagte die beiden kurzen Sätze mit einem besonderen Akzent und in gebrochenem Deutsch. Ich war sehr schnell verblüfft, und bevor ich etwas erwidern konnte, zogen plötzlich alle Bilder und Nachrichten aus der Ukraine vor meinen Augen vorbei. Es war mir wirklich peinlich, als ich sie bat, meinen Sitzplatz freizulassen. Ich sagte mit einem Lächeln, kein Problem. Der Zug fuhr durch die Häuser und Gebäude von Berlin los. Die Frau und ich beobachteten beide die vorbeifahrenden Häuser, Autos und Menschen.
Ich wollte mit ihr reden, aber ich wusste nicht, was mich davon abhielt. Ich wollte sie fragen, wo ihre Familie ist, warum sie allein reist, ob ihr Haus noch unbeschädigt ist, ob sie die Hoffnung hat, eines Tages nach Hause zurückzukehren. Alle Fragen, die mir als Flüchtling schon einmal gestellt worden waren, und auf die meisten davon hatte ich keine Antwort.
Kurze Zeit später zog die Frau eine Plastiktüte aus ihrer kleinen Tasche und legte ein paar Scheiben selbstgebackenes Brot und etwas Gemüse auf den Tisch. Ich fühlte mich, als ich meine Grossmutter sehen hätte. Sie nahm auch trockenes Brot, Käse und Gemüse mit. Als meine Grossmutter noch lebte, hatten wir keine Angst mehr vor Hunger, denn in ihrer kleinen Tasche war für jeden ein kleines Stück Brot. Die Frau steckte sich in aller Ruhe Brotstücke in den Mund und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit ausserhalb des Zuges. Ihre Augen waren jedoch nicht ruhig. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihre Augen kannte. Ich hatte diese Augen schon gesehen. Es waren die Augen meiner Grossmutter, die jeden Tag aus dem Fenster unseres Hauses schaute. Es waren die Augen meines Vaters, als er sich von seinem Haus verabschieden musste. Es waren meine Augen vor ein paar Monaten, als alle meine Träume und Hoffnungen in kurzer Zeit zerplatzt waren. Auch ich starrte beunruhigt auf mein Handy, sah aus der Ferne die Zerstörung meines Hauses und dachte unwillkürlich an den kleinen Garten, den mein Vater angelegt hatte. Ein Garten, um den sich unsere Familie jeden Nachmittag versammelte und Tee trank. Hatte diese Frau auch an ihr Haus gedacht?
Der Zug war schon lange durch Berlin gefahren und in der Ferne waren nur noch kleine Lichter zu sehen. Das Mondlicht des kalten Winterhimmels hatte kein Licht mehr. Manchmal sah ich in der Spiegelung des Zugfensters das Gesicht und die Augen einer Frau, die in die Dunkelheit hinter dem Fenster starrte. Vielleicht sah sie in dieser Dunkelheit das Bild ihrer zerstörten Stadt. Vielleicht stellte sie sich ein Bild von ihrem Haus vor, in dem sie keine Kuchen mehr für ihre Enkelkinder backen konnte. Vielleicht blickte sie auf ihren Garten, der nicht mehr grün war und in dem ein paar Steinbrocken, verbranntes Holz und Feuer das Wachstum der Gartenblumen verhindert hatten. Der Zug raste durch die dunkle Nacht. Ein afghanischer Mann und eine ukrainische Frau sassen sich gegenüber, weit weg von ihrem Zuhause. Beide suchten nach Licht in der Dunkelheit hinter dem Fenster.
Geschrieben von Jalal Husaini, auf deutsch übersetzt von Mortaza Shahed
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